"Drehen wir den Spieß doch einfach mal um"
In Ballungsräumen ist ÖPNV für Viele eine echte Alternative zum Auto. Im Speckgürtel und erst recht in der Fläche ist er davon noch weit entfernt. Wir haben den Zukunftsforscher und Stadtgeographen Dr. Stefan Carsten gefragt, was passieren muss, damit sich das ändert.
Dr. Stefan Carsten: Man muss erstmal festhalten, dass 60 Prozent der Menschen in Städten bis 50.000 Einwohnern leben und einer ADAC-Umfrage zufolge mit ihrer Mobilität total zufrieden sind. Die setzen sich in ihr Auto und kommen nach 30 Kilometern total happy irgendwo an. Diese Menschen werden nur dann umsteigen, wenn der ÖPNV durchgehende und nahtlose Verbindung von A nach B bietet. Dafür brauchen wir in den Stadträndern, Vororten und im ländlichen Raum aber nicht nur echte Mobilitätsoptionen, sondern auch die passende Infrastruktur.
RegioSignale: Wie sollte die aussehen?
Dr. Stefan Carsten: In suburbanen Regionen sind Bahnhöfe oder Park&Ride-Parkplätze, oft genug auch die Quartiere selbst monofunktionale Räume. Wir müssen diese Räume aber ganz anders verstehen, müssen sie aufladen, die Aufenthaltsqualität verbessern, mit Wohn- und Arbeitsfunktionen anreichern. Dazu gehört auch, dass Verkehrsflächen umverteilt werden, massiv Radwege gebaut und mehr Umsteigemöglichkeiten vom Rad in Bus oder Regionalbahn geschaffen werden. Wir brauchen andere Abstellmöglichkeiten, Parkplätze oder Parkhäuser für Räder. Denn gerade in den Vororten sind Räder für die Fahrt zum Bahnhof das Mittel der Wahl. Da sehe ich bisher leider nur wenig bis gar nichts.
RegioSignale: Ist da nicht ein bisschen viel Zukunftsmusik im Spiel?
Dr. Stefan Carsten: Nein, überhaupt nicht. Die Pläne für die Räume von morgen werden ja heute gemacht. Das ist ja gerade der Knackpunkt. Hierzulande wird immer noch viel zu monofunktional geplant und gebaut. Dabei wissen doch eigentlich alle, dass wir kompakte und attraktive Räume brauchen, damit die Menschen morgens eben nicht fluchtartig ihre Schlafsiedlungen verlassen und quer durch die Stadt zur Arbeit fahren, um sich abends zurückzuschaffen und wieder schlafen zu legen.
Stattdessen sollten wir suburbane Räume schaffen, die so attraktiv sind, dass Menschen vielleicht sogar aus dem Zentrum dorthin fahren – und die, die dort leben, vielleicht sogar bleiben wollen, weil dort alles vorhanden und alles möglich ist. Es gibt ja genug Beispiele, die zeigen, dass das möglich ist.
RegioSignale: Was wäre eines?
Dr. Stefan Carsten: Die Seestadt vor den Toren von Wien. Hier leben genauso viele Menschen wie es Arbeitsplätze gibt und die Planer:innen haben Mobilität von Anfang an mitgedacht. Die U-Bahnverbindung mit Wien Zentrum war schon in Betrieb, als das Quartier bezogen wurde. Dazu gibt es einen Ring- und Pendel-Shuttle, der den Bahnhof mit den Quartieren verbindet. Mitglieder des örtlichen Miet- und Mobilitätsverbund können kostenfrei Lastenräder ausleihen, die Kids fahren alle mit ihren Rädern oder Tretrollern in die Schule. Mittlerweile reichen die Mobilitätsangebote in die Umgebung hinein, vernetzen bereits bestehende mit entstehenden Quartieren und wachsen vom Stadtrand in die Stadt hinein.
Hierzulande sind die Städte nach wie vor industriell geprägt und man beginnt erst ganz langsam, Straßen zurückzubauen und Verkehrsflächen für den Fuß- und Radverkehr zurückzugewinnen. Genau darauf kommt es aber an. Denn damit schaffen wir neue Räume für das Leben in der Stadt. Abgesehen davon ziehen solche Räume auch ein anderes Verständnis für den ÖPNV nach sich, weil dann wieder viele Menschen und nicht nur ein paar Umsteiger transportiert werden müssen.
RegioSignale: Trotzdem lebt dieser Erfolg vor allem von der Nähe zu Wien. Welche Optionen haben weniger dicht besiedelte Regionen?
Dr. Stefan Carsten: Sie brauchen andere Konzepte. Ridepooling beispielsweise, also Microbusse – vielleicht auch ganz gewöhnliche Autos – die bestehende Angebote ergänzen und Versorgungslücken auf der letzten Meile zu schließen. Oder komplementäre Angebotsformen wie Rufbusse ohne Taktung, die man über Handy oder Telefon buchen oder routen kann. Solche Lösungen schaffen Mobilität und Alternativen. Auf dem Land können es auch Carsharing-Systeme sein. In Schleswig-Holstein haben 65 Kommunen einen Sharing-Verbund organisiert. Das verändert zwar nicht die Welt. Aber solche Initiativen brechen verkrustete, tradierte und eingefahrene Strukturen auf, schaffen eine Alternative zum Zweit- oder Drittwagen – und irgendwann vielleicht auch mal zum Erstwagen.
RegioSignale: Gerechnet haben sich solche Ansätze bisher aber nicht.
Dr. Stefan Carsten: Der motorisierte Individualverkehr beschert uns dreckige Luft, Unfälle, unzählige Verletzte und viele Tote. Die externen Kosten sind enorm, aber wir rechnen nicht nach und tragen sie klaglos. Drehen wir den Spieß doch einfach mal um und sagen: Ab jetzt ist der ÖPNV umsonst – und alles andere kostet.