Superprodukt mit Nebenwirkung
Unternehmen begrüßen den einheitlichen Tarif, Verbünde bangen um solidarische Ticketmodelle: Fegt das Deutschlandticket die Jobtickets aus dem Sortiment?
Was kostet ein Einzelfahrschein im ÖPNV? Die Frage klingt harmlos, hat es aber in sich. Denn ob die Antwort 2,50 Euro oder 20,50 Euro lautet, hängt davon ab, ob das Ticket nach der Fahrt im Papierkorb oder in der Reisekostenabrechnung eines Unternehmens landet: Dort erzeugt es nämlich schnell mal Prozesskosten, die ein Mehrfaches des Ticketpreises betragen – die Nerven, die Reisende dabei verlieren, nicht mitgerechnet.
Dienstreisende werden nicht mehr ausgebremst
Für Inge Pirner, Vizepräsidentin des Verbands Deutsches Reisemanagement VDR, ist das Deutschlandticket deshalb gleich aus mehreren Gründen ein Segen: „Dienstreisende werden nicht mehr durch den Tarifdschungel ausgebremst und können sich über ein erleichterte Reisekostenabrechnung freuen - sofern die Buchbarkeit des Tickets in die unternehmensinternen Prozesse passt. Unternehmen begrüßen zudem den bundesweit einheitlichen Tarif der die standortübergreifende Implementierung eines betrieblichen ÖPNV-Angebots im Vergleich zum Jobticket enorm erleichtert.“
Es ist schade um die Zahlungsbereitschaft
Die Konkurrenzierung des Job-Tickets ist einer der Gründe, warum Fabian Haunerland, Berater beim ÖPNV-Spezialisten Probst & Consorten Marketing-Beratung, das Deutschlandticket trotz der Erleichterung für Arbeitgeber:innen mit gemischten Gefühlen betrachtet. Bisher, erläutert Haunerland, hätten Unternehmen die Jobtickets oft in bedeutender Höhe bezuschusst und sich dadurch an den Kosten des öffentlichen Verkehrs beteiligt. Beim Deutschlandticket falle diese Kofinanzierung vermutlich in großen Teilen weg. „Es ist schade um die Zahlungsbereitschaft der Arbeitgeber:innen gegenüber den Verkehrsverbünden und fraglich, ob sie sich wieder wachküssen lässt, wenn der Wind sich dreht.“ Die Verkehrsunternehmen, so Haunerland, sollten sich deshalb aktiv darum bemühen, ihre Bestandsfirmenkunden und deren Zahlungsbereitschaft zu erhalten.
Ausstieg aus Solidar-Ticketmodellen
Johann von Aweyden, Geschäftsführer des Deutschen Tarifverbundes DTV, teilt Haunerlands Sorgen um erodierende Zuschüsse. Bauchschmerzen bereitet ihm allerdings auch die Aussicht, dass die Quersubventionierung von Intensivnutzer:innen durch Ticketinhaber:innen, die den ÖPNV kaum in Anspruch nehmen, künftig wegfallen könnte: „Das Deutschlandticket ermöglicht Nicht- oder Minimal-Usern den Ausstieg aus Solidar-Ticketmodellen mit Zwei-Komponentenfinanzierung wie den Job- und Semestertickets.“
Gekommen um zu bleiben
Für Ben Gallmeister vom MaaS-Spezialisten Vesputi sind die Tage des Jobtickets hingegen noch lange nicht gezählt. Das Deutschlandticket sei zwar ein „Superprodukt“, biete aber nicht denselben Funktionsumfang wie Abo-Produkte, die oft Mitfahrerregelungen enthielten oder übertragbar seien. Er hält es deshalb für möglich, dass Verbünde und Unternehmen ihr Produkt auf lokaler Ebene differenzieren, indem sie zusätzliche Features wie Sharing-Services tariflich integrieren. Gallmeister ist sich sicher: „Bird, Lime und Co sind gekommen, um zu bleiben.“
"Wir bauen unser CorporateMobility-Angebot weiter" um
Unternehmen wie die Deutsche Telekom scheinen Zukunft und Nutzen von Sharing-Lösungen ähnlich zu sehen. „Wir bauen unser CorporateMobility-Angebot kontinuierlich weiter um und aus, bieten mit unserer MaaS-App neue Möglichkeiten der vernetzten, geteilten Mobilität und verbessern die Auslastung der bestehenden Flotte durch App-basierte Shuttle- und Sharing-Dienste“, postete Dr. Olga Nevska, Geschäftsführerin von Telekom MobilitySolutions, kürzlich auf LinkedIn.
Anteil liegt oft genug noch weit über 60 Prozent
Tatsächlich dürften sich künftig mehr Unternehmen als bisher auf die Suche nach ebenso überzeugenden wie nachhaltigen Mobilitätslösungen für ihre pendelnden Mitarbeiter:innen machen. Denn deren Anteil liegt oft genug noch weit über 60 Prozent – und das ist zu viel, um die Anforderungen der EU-Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung auf Dauer erfüllen zu können. Für viele Unternehmen ist das ein Grund mehr, mit dem Deutschlandticket in den Umstieg vom Auto in den ÖPNV einzusteigen.
Auslastung könnte noch weiter steigen
Fürs Klima und den ÖPNV-Anteil am Modal Split ist das zweifellos eine gute Botschaft. Johann von Aweyden sieht mit der Kombination aus Deutschlandticket und steigender Nachfrage im Pendlerverkehr aber auch eine große Herausforderung auf den ÖPNV zukommen. „Die Kombination von fixen Kapazitäten mit volatilen Nachfrageschwankungen, ganz gleich, ob Schiene, Straße oder Strom, ist immer eine Herausforderung. Da gibt es keine einfachen Antworten. Künftig könnte die Auslastung noch weiter steigen, die Tarife aber würden sinken. Der Druck wächst.“