„Ich halt nicht. Das ist der Unterschied.“
Barrierefreier ÖPNV steht bei den Bundestagsabgeordneten Stephanie Aeffner und Nyke Slawik ganz oben auf der Agenda. Ein Gespräch über verpasste Chancen und neue Lösungen.
Stephanie Aeffner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vertritt den Wahlkreis Pforzheim. Sie gehört dem Ausschuss für Arbeit und Soziales an und hat dort vor allem die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen im Blick. Nyke Slawik (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) macht sich im Verkehrsausschuss für den ÖPNV und Barrierefreiheit stark und vertritt den Wahlkreis Leverkusen.
RegioSignaleBlog: Eigentlich wären wir schon viel früher zusammengekommen. Dann kam aber eine Sturmfront mit vielen Zugausfällen dazwischen und hat Sie, Frau Aeffner, besonders rüde ausgebremst, weil Sie im Rollstuhl unterwegs sind.
Stephanie Aeffner: Ich muss Hilfsleistungen 24 Stunden im Voraus anmelden, kann sie je nach Bahnhofskategorie aber nur zu bestimmten Servicezeiten in Anspruch nehmen. Wann ich reisen kann, hängt also von den Servicezeiten meiner Start- und Zielbahnhöfe ab. Trifft ein fahrplanmäßig verkehrender Zug erst am Zielbahnhof ein, wenn der Mobilitätsservice Feierabend hat, muss ich passen. Nach so einem Orkan fahren die Kolleg:innen dann bei der ersten Gelegenheit los und ich halt nicht. Das ist der Unterschied und der raubt mir wahnsinnig viel Lebenszeit.
RegioSignaleBlog: Frau Slawik, wie sieht es im Nahverkehr aus? Der Koalitionsvertrag verspricht ja entschiedenere Schritte in Richtung Barrierefreiheit.
Nyke Slawik: Die Ampel hat vereinbart, dass alle Bereiche des öffentlichen Lebens barrierefrei gestaltet werden müssen. Dazu zählt natürlich auch der ÖPNV – obwohl er eigentlich schon zum 1. Januar dieses Jahres vollständig barrierefrei hätte sein sollen. So war es jedenfalls von der 2013 in Kraft getretenen Novelle des Personenbeförderungsgesetzes vorgesehen. Dass die dazu erforderlichen Baumaßnahmen bisher nicht umgesetzt wurden, liegt im Wesentlichen an den zahlreichen Ausnahmeregelungen, die seinerzeit festgeschrieben worden waren. Diese Hemmnisse wollen wir im Laufe der Legislaturperiode vollständig beseitigen und auch die nötigen finanziellen Mittel für den Umbau von Bahnhöfen und Haltestellen bereitstellen, damit ab 2026 ein barrierefreier öffentlicher Verkehr realisiert werden kann.
RegioSignaleBlog: Wäre die personelle Aufstockung der Mobilitätsservices bis dahin eine geeignete Zwischenlösung?
Stephanie Aeffner: Hier möchte ich mit Blick auf den Nahverkehr doch gerne in Erinnerung rufen, was die UN-Behindertenrechtskonvention unter Barrierefreiheit versteht. Nämlich Systeme, die für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind. Davon sind wir meilenweit entfernt – und das kann und darf nicht sein. Denn ÖPNV ist zum großen Teil ein steuerfinanziertes Angebot und muss deshalb so gestaltet sein, dass ihn alle Bürger:innen nutzen können. Dazu gehört übrigens auch, dass man die vorhandene Infrastruktur betriebsbereit hält und Aufzüge in einem Umsteigebahnhof wegen planbarer Wartungsarbeiten nicht monatelang ausfallen.
RegioSignaleBlog: Lassen sich die Lücken wenigstens mit Hilfe digitaler Lösungen überbrücken?
Stephanie Aeffner: Leider gibt es nur sehr wenige Anbieter, die in ihrer Fahrplanauskunft über barrierefreie Reiseketten informieren, obwohl man sie problemlos digital bereitstellen könnte. In Stuttgart beispielsweise muss ich mir nach der Wahl einer S-Bahn-Verbindung Stationspläne im PDF-Format herunterladen, um mich über die Breite von Durchgängen, Höhendifferenzen an der Bahnsteigkante, Rampen oder Aufzüge zu informieren. Stelle ich dann fest, dass ich nicht durchkomme, lade ich die Netzkarte herunter, lege einen Busplan daneben, habe vielleicht eine Idee und fange dann wieder von neuem an, Haltestellen auf Barrierefreiheit zu überprüfen. Das kann und darf nicht sein.
Nyke Slawik: Wir sind uns als Koalition einig, dass die Fahrgastzahlen im ÖPNV deutlich steigen sollen und wollen die Regionalisierungsmittel entsprechend aufstocken. In diesem Kontext streben wir gemeinsam mit dem Verkehrsministerium verbindliche Qualitätsstandards für ÖPNV und SPNV an. Dazu gehört selbstverständlich auch, dass wir auf Barrierefreiheit drängen und da, wo Menschen mit Behinderungen personelle Unterstützung benötigen, den Personalschlüssel im Blick behalten.
RegioSignaleBlog: Im Koalitionsvertrag steht auch, dass der ÖPNV attraktiver werden soll. Was bedeutet das konkret für Städte in Ballungsräumen wie Leverkusen oder regionale Oberzentren mit großem ländlichem Einzugsgebiet wie Pforzheim?
Nyke Slawik: Leverkusen steht eher für Randlage und suburbane Räume mit niedriger getaktetem Verkehrsangebot. Gerade für diese und sich anschließende ländliche Räume ist es unglaublich wichtig, dass wir die Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen, Linien- und Bedarfsverkehre miteinander vernetzen und Bedarfsangebote insgesamt besser in das ÖPNV-Angebot einbinden. Gleichzeitig muss der Bedarfsverkehr selbstverständlich barrierefrei sein. Aktuellen Vorschriften zufolge müssen lediglich fünf Prozent einer Flotte diese Anforderung erfüllen – und auch das erst ab einer gewissen Flottengröße. Das wollen wir ändern, damit überall im ÖPNV Barrierefreiheit gewährleistet ist.
Stephanie Aeffner: In meinem Wahlkreis prallen beide Welten aufeinander. In Pforzheim gibt es großen Druck, das Angebot auszuweiten, obwohl es natürlich deutlich dichter ist als im Enzkreis, der die Stadt umgibt. Dort wird diese Debatte interessanterweise aber nicht geführt, weil man sich scheinbar nicht vorstellen kann, dass der ÖPNV das eigene Auto ersetzen könnte. Wenn Menschen sich die Mieten in der Stadt aber ebenso wenig leisten können wie die individuelle Mobilität auf dem Land, ist ein gutes öffentliches Angebot in der Fläche eine soziale Frage. Also entwickeln wir diese Angebote, stoßen bei Lösungen wie der Integration von Carsharing aber an Grenzen, weil Menschen mit Behinderungen oft individuell angepasste Fahrzeuge brauchen. Also muss man schauen, was Bedarfsverkehre leisten können – und da gibt es in Baden-Württemberg unter anderem mit barrierefreien Bürgerbussen gute Erfahrungen. Wenn trotzdem Lücken bleiben, muss man eben Taxileistungen in das öffentliche Mobilitätsangebot integrieren.
Anmerkung der Redaktion: Wie geht es weiter? Das Bundesministerium für Digitales und Verkehr BMDV informiert auf seiner Website fortlaufend über Vorhaben und Beschlüsse zur Barrierefreiheit im öffentlichen Personenverkehr. Darüber hinaus greifen Stephanie Aeffner und Nyke Slawik das Thema kontinuierlich auf ihren Websites auf.